Der blinde Fleck

Aufsatz von Hannah Bernardi (8. Klasse) auf "ich frau"

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Im Rahmen einer Deutsch-Schularbeit im Jänner beschäftigte sich die Oktava mit dem Thema "Femizid". Traurige Aktualität erlangte das Phänomen einmal mehr Ende des vergangenen Jahres durch den Mord an der auch in Südtirol bekannten und beliebten, aus Äthiopien stammenden Ziegenzüchterin Agitu Gudeta, die im Trentiner Gareit (Bersntol) lebte und arbeitete. Der dabei entstandene Aufsatz von Hannah Bernardi wurde nun auf "ich frau", dem Blog des Frauenmuseums Meran, veröffentlicht.


Würde man beliebige Passanten auf der Straße nach Assoziationen zu Italien befragen, kämen wohl unterschiedlichste Thematiken zur Sprache, von kulinarischen Vorlieben über landschaftliche und kulturelle Schwärmereien, vielleicht würde manch einer auch die prekäre ökonomische Situation des Landes erwähnen. Doch ein Thema würde mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit unerwähnt bleiben: Die erschreckend hohe Rate an Femiziden in diesem „modernen“ Staat. Deshalb möchte ich im Folgenden die Aktualität und Relevanz der Problematik erläutern.

DIE VIELEN GESICHTER DER GEWALT

In unserer patriarchal geprägten Gesellschaft erfahren Frauen an vielen Stellen Benachteiligung und Unterdrückung. Es beginnt beim klassischen Frauenbild, das bestimmte obligatorische Verhaltensmuster vorgibt, angemessene „weibliche“ Berufe vorstellt, andere Tätigkeiten und Einstellungen hingegen kategorisch als unangemessen abstempelt. Warum sollte eine kurzhaarige Mechanikerin in Arbeitskluft ihr Geschlecht weniger angemessen vertreten als eine dezent geschminkte Krankenpflegerin mit lackierten Nägeln? Warum entscheiden Männer darüber, wie Frauen auszusehen haben und welches Verhalten für sie angebracht ist?

Diese Unterdrückung und Herabwürdigung des weiblichen Geschlechts manifestiert sich auch in konkreten Benachteiligungen, beispielsweise bei der Arbeitssuche und beim Gehalt, wodurch die Leistung einer Frau pauschal als minderwertiger eingestuft und ihre Arbeit weniger wertgeschätzt wird, als es bei einem männlichen Kollegen der Fall wäre. Auch im familiären Umfeld haben Männer meist die Entscheidungsgewalt inne und vermitteln Frauen ihre Abhängigkeit und untergeordnete Rolle.

All dies sind, wenn auch vergleichsweise harmlose, Nuancen von Gewalt, die sich in Geringschätzung und Diskriminierung ausdrückt und Frauen vermittelt, sie seien schwächer und weniger wichtig als Männer.

DIE ROLLE DER FRAU

In verschiedensten Situationen wird Frauen suggeriert, sie hätten eine mehr schmückende Funktion, als tatsächlich für ihre Fähigkeiten oder Werte geschätzt zu werden. Dies wird im täglichen Leben deutlich, in dem sich Frauen allgemein gut gekleidet und gestylt präsentieren sollen, vor allem aber zeigt es sich in vielen Beziehungen, in denen Frauen als Aushängeschild oder Accessoire, ähnlich wie ein teures Auto, geführt werden. So wird es in unserer „aufgeklärten“ Gesellschaft als völlig normal erachtet, wenn reiche, ältere Männer sich mit jungen, hübschen Damen zieren, wenn Frauen wie Schmuck vorgezeigt und verglichen werden, als hätte man durch sie ein besonders erstrebenswertes Luxusgut erworben. Dass Frauen aber selbstständige Individuen sind, die Männern in ihren Fähigkeiten allgemein in nichts nachstehen, geht hierbei völlig unter. Sie werden zu Schaufensterpuppen degradiert.

DER BLINDE FLECK DER GESELLSCHAFT

All diese Formen der Abwertung des weiblichen Geschlechts werden oft als gegeben und natürlich hingenommen. Dass sich in ihnen aber der Ursprung einer verkannten Gewalt birgt, bleibt völlig unbeachtet.

Der Begriff des Ehrenmordes mag vielen lediglich aus dem arabisch-muslimischen Raum bekannt sein. Frauen werden dort aufgrund einer angeblichen Schande, die sie über Männer in einem Umfeld gebracht haben sollen, brutal misshandelt und getötet, was hierzulande nur kopfschüttelnd als weit entferntes, tragisches Phänomen wahrgenommen wird. Dabei berichten italienische Zeitungen beinahe täglich von Gewalttaten, welche einem Ehrenmord nicht unähnlich sind. In beiden Fällen werden Frauen als Besitz eines Mannes angesehen, dessen einzige Aufgabe darin besteht, den ihr übergeordneten Mann gut aussehen zu lassen und zufriedenzustellen.

Doch wie kommt ein Mann dazu, eine Frau als sein Eigentum zu deklarieren, mit dem man(n) verfahren kann, wie es ihm beliebt? Wie kann es sein, dass tausende Frauen in einem hochentwickelten Staat wie Italien mitten in Europa in permanenter Angst leben müssen, weil sie von ihrem Partner oder männlichen Familienangehörigen misshandelt, geschlagen, ja, in jeder nur erdenklichen Form herabgewürdigt werden – und den drohenden Tod ständig vor Augen haben müssen?

Femizid und Gewalt an Frauen sind totgeschwiegene Probleme einer Gesellschaft, die sich damit schmückt fortschrittlich und aufgeklärt zu sein, in grundlegendsten Bereichen aber – Gleichberechtigung und Menschenwürde nämlich – nach archaischen Maßstäben handelt und misshandelt. Gewalt entsteht nicht aus dem Nichts. Sie baut sich aus kleinsten Facetten und Denkstrukturen langsam auf und setzt sich in den Köpfen von Menschen fest, bis sie legitimiert und völlig einleuchtend erscheint. Deshalb muss dieser Teufelskreis im Keim erstickt werden. Es gilt Strukturen unseres Lebens zu hinterfragen und neu zu bewerten, überholte Stereotypen aus unseren Köpfen zu verbannen und die nachkommenden Generationen dahingehend zu erziehen, dass sie endlich auch diesen Bereich unseres Lebens modernisieren – oder vielmehr humanisieren. Die Gewalt gegen Frauen darf in dieser Welt keinen Platz haben.

Hannah Bernardi

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