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Die beste Musik für uns ist immer die, die uns glauben lässt, sie sei die einzige gute Musik auf der Welt und die anderen müssten auch diese Musik lieben und verstehen. Aber, aus Erfahrung wissen wir, dem ist es nicht so. Musik ist ein kulturelles Zeichensystem, das wir wie die Muttersprache über Gewohnheit und Sozialisation erlernen. Ist daher Musik keine Weltsprache, die jeder „versteht“?
„In vielen Sonntagsreden von Politikern, Gesangsvereinsvorsitzenden, Kulturmanagern und Medienbossen wird ein Satz über die Musik bemüht, der allgemeine Zustimmung genießt. Dabei ist aber der fromme Wunsch der Vater des Gedankens und die Ignoranz seine Mutter. Der Satz lautet: Musik ist eine Sprache, die jeder versteht. Das ist blühender Unsinn. „Musik“ hat dutzende, ja hunderte „Sprachen“ mit tausenden Redewendungen, Vokabeln, mit unterschiedlicher Syntax und Grammatik. Da herrscht eine Sprachverwirrung babylonischen Ausmaßes. Der Satz müsste korrekt lauten: Wer versteht wessen Musik-Sprache NICHT, und warum?“ (Fladt, 2012, S.11)
Man kann einerseits oft das Andere – die andere Musik - nicht verstehen, weil wesentliche Voraussetzungen, Erfahrungen und Kenntnisse fehlen, und andererseits will man das Andere oft auch gar nicht verstehen, und das aus vielfältigen Gründen.
Man will sich abgrenzen, man will sich mit dieser oder jener Musik identifizieren. Musik sowie auch Sprache schafft Identität. Der eine identifiziert sich mit Musik von Beethoven, sie spricht zu ihm und er versteht sie – oder glaubt, sie zu verstehen -, während der andere, der Techno-Musik liebt, der kann Musik von Beethoven nicht aushalten.
Dem heutigen Musikhörer stehen unterschiedlichste Musiken aus unterschiedlichsten Zeiten zur Verfügung, vom frühen Mittelalter bis zu neuester Musik. Das war nicht immer so.
„[S]olange die Musik wesentlicher Bestandteil des Lebens war, konnte sie nur aus der Gegenwart kommen. Sie war die lebendige Sprache des Unsagbaren, sie konnte nur von den Zeitgenossen verstanden werden. Die Musik veränderte den Menschen – den Hörer, aber auch den Musiker. Sie mußte immer wieder neu geschaffen werden, [...] – immer wieder der neuen Lebensweise, der neuen Geistigkeit entsprechend. So konnte man auch die Alte Musik, die Musik der vergangenen Generationen, nicht mehr verstehen und nicht mehr gebrauchen; man bewunderte lediglich ihre hohe Kunstfertigkeit.“ (Harnoncourt, 2010, S. 9f.)
Der Musikphilosoph Gunnar Hindrichs hat die Beziehung von Musik und Sprache durch vier Abgrenzungen bzw. Bezugsebenen zueinander umfassend dargelegt: Musik als keine Sprache, Musik als eine vorbegriffliche Sprache, Musik als überbegriffliche Sprache und Musik als unbegriffliche Sprache (vgl. Hindrichs, 2017).
Gemeint ist im vorliegenden Beitrag mit Musik tendenziell die abendländische Kunstmusik und die vorwiegend in Europa entstanden ist.
Die schärfste Differenzierung kann durch die Abgrenzung von Musik und Sprache erfolgen, indem man sagt, Musik ist keine Sprache. Hierbei ist Musik nicht nur keine besondere Form von Sprache, sie ist überhaupt keine Sprache und beide stehen als solche in Opposition.
Begründen lässt sich das beispielsweise über die Zuordnung der Musik im Rahmen der sieben freien Künste. Die artes liberales ordneten das spätantike und mittelalterliche Wissen zu einem Bildungsgang oder-plan, der in zwei Gruppen gegliedert war. Die erste Gruppe bildete das Trivium bestehend aus Grammatik, Logik (Dialektik) und Rhetorik; die zweite Gruppe bildete das Quadrivium, bestehend aus Musik, Arithmetik, Geometrie und Astronomie. Die drei sprachlichen Disziplinen (artes sermonicales) des Triviums äußerten sich im logisch-argumentativen Bezeichenen, Benennen und Begründen. In den Disziplinen des Quadriviums kam das zählende Element zur Geltung und dazu gehörte die Musik. Und dies, weil die Ordnungen der Tonhöhen und Tondauern durch Zahlen bestimmte Proportionen darstellen: von den Tönen der Instrumente und der Stimmen bis zu den Proportionen des Kosmos, wie aus der pythagoreischen Tradition überliefert, bei welcher der Kosmos als eine auf Zahlenkombinationen und auf Proportionen beruhende Harmonie verstanden wurde. Das Denken, dass die zahlenmäßige Ordnung der Musik, die das All des Seienden im Großen wie im Kleinen bestimmt, wurde über Platon und weitere bis zu den Konzeptionen einer Sphärenmusik der frühen Neuzeit, wie bei Kepler, vermittelt. Das ordnungsbildende Prinzip der Welt bildet ihnen zufolge die Zahl: alles Seiende ist Zahl. Unter Zahlen sind hierbei nicht Zahlen im heutigen Sinne zu verstehen, sondern diskrete, geordnete Mannigfaltigkeiten, wie beispielsweise zahlenmäßig bestimmte Töne. So ließ sich auch die Struktur der gesamten Welt in Zahlenverhältnissen und Harmonien verstehen. Auch die menschliche Seele wurde als eine auf verschiedene Weise gestimmte Harmonie begriffen.
Auf dieser Grundlage lässt sich Musik klar und deutlich von Sprache abgrenzen.
Diese Abgrenzung von Sprache und Musik in der Tradition des Quadriviums finden wir auch 2000 Jahre später im Serialismus, ein Kompositionsdenken des 20. Jahrhunderts, das auf die Weiterentwicklung der Zwölftontechnik basiert und versucht hat möglichst alle Eigenschaften der Musik, wie Tondauer, Tonhöhe und Lautstärke, auf Zahlen- oder Proportionsreihen aufzubauen.
Anstatt Musik als „Nicht-Sprache“ kann sie auch als eine besondere Artvon Sprache begriffen werden. Tonsprache und Begriffssprache werden in Verbindung gesetzt. Die Tonsprache kann hierbei „vorbegrifflich“ gedeutet werden, das heißt, die Tonsprache weist nicht eine solche Artikuliertheit des Begriffs, wie die Sprache auf, sie vermittelt dennoch Gehalte, die auch in der Begriffssprache thematisiert werden. Sie ist im Vorhof des Begriffs (Hindrichs, 2017, S. 24).
Wenn man Musik als Ausdruck der Gefühle und Leidenschaften versteht, etwas, was in einem allgemeinen Verständnis von Musik heute weit verbreitet ist, kann man sich am ehesten das Konzept von Musik als vorbegriffliche Sprache vorstellen.
Von diesem Verständnis aus gesehen mag der eingangs erwähnte Satz seinen Ursprung haben: Musik ist die einzige Sprache der Welt, die jeder versteht.
Es war Johann Gottfried Herder, der die anthropologische Erklärung der gemeinsamen Wurzel von Musik und Sprache als Sprache der Leidenschaften lieferte. Die ersten Bedürfnisse des Menschen drücken sich in einem Geschrei unartikulierter Töne aus. Wenn diese Bedürfnisse befriedigt werden, so entsteht Freude, wenn nicht, Trauer und Schmerz.
Das bedeutet, dass die Basis der menschlichen Sprache aus Akzenten der Empfindung besteht. So wird, laut Herder, Musik aus der Sprache der Leidenschaften geboren (ebd., S. 24).
Die aus der Sprache der Leidenschaften geborene Musik ist der vorbegriffliche Ausdruck inniger Gefühle.
Könnte also diese Sprache der Leidenschaften und Gefühle für alle Menschen verständlich und somit universell sein?
Beim Versuch, ein universelles Verständnis von Musik aufzuspüren, kommt man zu den Wurzeln eines gemeinsamen Ausdrucks von Leidenschaften oder Grundemotionen, die wir im Leben, in der Kunst, der Dichtkunst, Malerei und in der Musik, oder auch im Film und in ästhetischen Ausdrucksformen finden, teilweise auch in der Natur vorfinden.
Betrachten wir als Grund-Emotion die Geste der Freude. Sie äußert sich in Aufwärtsbewegung, wir springen vor Freude, strecken die Arme nach oben, juchzen und jodeln freudig in hohen Stimmlagen, in Energie, Geschwindigkeit und Lautstärke, Freude wird lauthals kundgetan, man denke an die Raketen und Schüsse beim Jahreswechsel, in Öffnung und Licht, auch die Blumen öffnen und richten sich nach oben zum Sonnenlicht. Emoji – Ikonen oder Symbole der Freude, die wir vielfach in der digitalen Kommunikation verwenden und gerne an Texten anhängen, zeigen ein Gesicht, bei welchem die Mundwinkel nach oben gehen, oder es ist der Daumen, der nach oben zeigt.
In der bildenden Kunst ist der Gestus der Freude bei der Nike von Samothrake (um 190 v. Chr./Louvre) oder bei der „Dwaze Maagd“ von Rik Wouters, 1912 deutlich erkennbar.
Im Gedicht „Der römische Brunnen“ von Conrad Ferdinand Meyer wird die Energie des Wassers in der vertikalen Spannung des Aufsteigens und Herabfließens dargestellt:
„Aufsteigt der Strahl, und fallend gießt
Er voll der Marmorschale Rund,
Die, sich verschleiernd, überfließt
In einer zweiten Schale Grund;
Die zweite gibt, sie wird zu reich,
Der dritten wallend ihre Flut,
Und jede nimmt und gibt zugleich
Und strömt und ruht. ...“
(www.deutschelyrik.de/der-roemische-brunnen.613.html)
Viele Musikbeispiele in freudigen Durtonarten, wie der Anfang des Weihnachtsoratoriums von J.S. Bach „Jauchzet, frohlocket, auf, preiset die Tage“, das berühmte Halleluja aus dem Messias von G.F. Händel oder die überspringenden melodischen Gesten mit den aufregenden Tonwiederholungen in den Begleitstimmen im Beginn der 4. Symphonie von Felix Mendelssohn Bartholdy.
Der junge Mendelssohn wurde bald nach seiner Ankunft im Land höchster Lebensfreude (Italien) von musikalischen Inspirationen förmlich übermannt.
„Überhaupt geht es mit dem Componieren jetzt wieder frisch“, schreibt er in einem Brief aus Rom. Und weiter „die italienische Sinfonie macht große Fortschritte, es wird das lustigste Stück, das ich gemacht habe“. Und in einem Brief an seine Mutter schreibt er: „ Ich wollte, die lustige Sinfonie, die ich auf das Land Italien mache, wäre fertig und Du könntest sie heute erhalten, denn Ich denke, das soll ein Stück für dich werden, da Du Nebel und Melancholie nicht liebst, ohne die man in Schottland doch einmal nicht leben kann, aber sie ist noch in weitem Felde, und so musst Du mir es nur auf Treu und Glauben nehmen, dass ich eine sehr heitere Sinfonie schreiben werde, die dich vergnügt machen soll“. (CD Mendelssohn Symphonie Nr.3&4, Freiburger Barockorchester, Pablo Heras-Casado. Booklet S.14)
Konträr zum aufstrebenden Gestus der Freude stellt sich die Trauer mit Abwärtsbewegung und Energielosigkeit dar. Trauer ist am Boden und schließt ab mit dunklen Farben und tiefen Tönen, langsam und leise.
Die melodische Linie des Weinens und der Trauer zieht nach unten, wie die Äste der Trauerweide.
Bei den Emoji-Ikonen zieht der Mundwinkel nach unten, ebenso zeigt der Daumen nach unten.
Der „Alte Mann in Sorgen“ von van Gogh oder der „Drehleierspieler“ von La Tour sind Paradebeispiele der Bildenden Kunst. Der „Leiermann“ aus Franz Schuberts Winterreise singt in der Tonart h-moll, die Tonart der Einsamkeit, der Verlassenheit, der Verzweiflung und der Todessehnsucht. Zu den nach unten fallenden und in sich kreisenden Gesten der Melodie kommt die statische Monotonie des Borduns der Drehleier hinzu. Ebenso deutlich kommt der Trauergestus im ersten Lied der Winterreise vor: „Fremd bin ich eingezogen, fremd zieh‘ ich wieder aus“.
Immer wieder haben Musiker und Musikwissenschaftler versucht, eine Grammatik der musikalischen Bedeutung der Gefühle und Leidenschaften herauszuarbeiten. Die alten Griechen glaubten, ihr Skalensystem stünde im Zusammenhang mit unterschiedlichen Gefühlslagen. Bei den indischen Ragas gibt es die Kategorien Freude, Trauer, Ärger und Friede.
Forschungen aus der Musikpsychologie haben gezeigt, dass Zuhörer aus westlichen Kulturen die indischen Ragas genau einordnen können, auch wenn ihnen diese Tradition bisher fremd war. Im Gegenzug konnten etwa die Mafa, die in den abgelegenen Teilen der Mandara Berge in Kamerun leben, ohne Probleme eine entsprechende Einschätzung westlicher Musikbeispiele abgeben.
Musik der Trauer und Niedergeschlagenheit kann gar nicht missverstanden werden. Wenn jemand weint, gibt sie oder er, normalerweise Töne von sich, die sich abwärts bewegen, dann wieder höher springen und erneut nach unten rutschen. Es überrascht also nicht, dass in musikalischen Klagen rund um den Globus etwas Ähnliches passiert.
Die schrittweise absteigenden Figuren sind nicht nur Sinnbild der Töne, die wir im Zustand der Trauer von uns geben, sondern auch das Absinken unserer Gesichtszüge und Schulter.
Weitergedacht kann die absteigende Trauergeste auch ein spiritueller Abstieg sein, eine Reise in die Unterwelt. Ein Klagelied hilft uns zugleich dem Labyrinth der Verzweiflung zu entkommen. Wie in der aristotelischen Tragödientheorie ermöglicht es die Reinigung von Furcht und Mitleid: durch Trauerrituale entschärfen wir die Kanten des Gefühls und geben diesem inneren Chaos eine Form.
Prominente Beispiele hierfür sind die zahlreichen Klagegesänge, Lamento, Ciacona, bei welchen durch den absteigenden Lamentobass die Grundstimmung der Trauer dargestellt wird.
Auch schon beim stillen Lesen offenbaren lyrische Texte ihre melancholische und nach unten fallende, abschließende Melodielinie, wie bei „I speak not“ von Lord Byron:
„I speak not, I trace not, I breathe not thy name;
There is grief in the sound, there is guilt in the fame;…”
(https://allpoetry.com/I-Speak-Not,-I-Trace-Not,-I-Breathe-Not-Thy-Name)
oder bei X agosto von Giovanni Pascoli:
“San Lorenzo, io lo so perché tanto di stelle per l’aria tranquilla arde e cade, perché sì gran pianto nel concavo cielo svavilla……”
(www.italianartsociety.org/2015/08/giovanni-pascoli-x-agosto-the-10th-of-august)
Des Weiteren würde es sich lohnen den Gestus der Wut, der Rache und des Zornes aufspüren, dargestellt mit chaotischer Bewegung, Kontrollverlust, Bedrohung, Zerrissenheit, Lautstärke, Geschwindigkeit und Erregung. Zu finden in den vielen Rachearien, in den Vertonungen des „Dies irae“, im, von Claudio Monteverdi entwickelten/codierten „stile concitato“, sowie in den Abbildungen von Naturgewalten in der Kunst.
Förmlich wie ein Wutausbruch beginnt das Sonett „Die Hölle“ von Andreas Gryphius:
„Ach! und Weh!,
Mord! Zetter! Jammer / Angst /
Creutz! Marter! Würme! Plagen!
Pech! Folter! Hencker! Flamm!
Stanck! Geister! Kälte! Zagen!
Ach vergeh! ...“
(www.projekt-gutenberg.org/gryphius/gedichte/chap005.html)
Quasi konträr dazu der Gestus der Ruhe, wie eine glatte und ruhige Oberfläche des Wassers mit sanfter zu sehender und zu hörender Windstille.
Der Gestus der Ruhe wirkt durch die Sanftheit, die Waagerechte, Hingabe an die Zeit, Geborgenheit und Harmonie.
Exemplarisch artikuliert in Goethes „Wanderers Nachtlied“:
„Über allen Gipfeln Ist Ruh'.
In allen Wipfeln spürest Du Kaum einen Hauch.
Die Vögelein schweigen im Walde.
Warte nur, balde ruhest Du auch.“
(www.schubertlied.de/die-lieder/wandrers-nachtlied-ueber-allen-gipfeln-ist-ruh)
Es wäre jedoch zu simpel und primitiv, wenn diese sogenannten Universalgesten zu einseitig und eindeutig interpretiert würden. Die unterschiedlichsten Farbtönungen und die versteckten Subtexte lassen ebenso viele Interpretations- und Deutungsmöglichkeiten zu. Solche Spannungsfelder sind auch wesentlicher Bestandteil der Kunst allgemein.
Da Musik aus dem Barockzeitalter, die Oratorien, Kantaten und Instrumentalwerke von Bach und Händel im heutigen Musikleben immer noch prominent vertreten sind, sei als Verständnishilfe für dieses Musikzeitalter ein Exkurs zur Beziehung zwischen Musik und Rhetorik erlaubt.
Wie wichtig die Kenntnis der Rednerkunst in der Barockzeit war, geht aus dem Zeugnis des Rhetorikdozenten Johann Abraham Birnbaum hervor. Kein geringerer als Johann Sebastian Bach wurde vom Musiktheoretiker und Komponisten Johann Adolf Scheibe in der von ihm herausgegebenen Wochenzeitschrift Der Critische Musicus scharf angegriffen. Scheibe wirft Bach unter anderem vor, dass er
„[…] seinen Stücken durch ein schwülstiges und verworrenes Wesen, das Natürliche entzöge, und ihre Schönheit durch allzugrosse Kunst verdunkelte“ (Peters, 2005, S.10).
Bach selbst nimmt zu den Vorwürfen Scheibes nicht Stellung. Statt seiner antwortet sein Freund, Magister Johann Abraham Birnbaum, der zur damaligen Zeit Dozent für Rhetorik an der Universität Leipzig war. In dieser Kontroverse führt er unter anderem aus:
„Die Theile und Vorteile, welche die Ausarbeitung eines musikalischen Stücks mit der Rednerkunst gemein hat, kennt er so vollkommen, daß man ihn nicht nur mit ersättigendem Vergnügen höret, wenn er seine gründlichen Unterredungen auf die Aehnlichkeit und Übereinstimmung beyder lenket; sondern man bewundert auch die geschickte Anwendung derselben, in seinen Arbeiten. Seine Einsicht in die Dichtkunst ist so gut, als man sie nur von einem großen Komponisten verlangen kann.“ (ebd., S.10)
Die humanistische Schulbildung ermöglichte, dass der von der Antike übernommene Lehrplan der Rhetorik später auf den Musikunterricht übertragen werden konnte. Im Wesentlichen unverändert wurde die Rhetorik von der Antike über das Mittelalter bis in die neue Zeit überliefert, von Marcus Fabius Quintilianus: Institutio oratoria über Joachim Burmeister: Musica poetica (1606) zu Johann Mattheson: Der vollkommenen Capellmeister (1739). In den mittelalterlichen und späteren Lateinschulen sowie an Universitäten wurde ihr große Bedeutung zuerkannt. Die Prinzipien des dramaturgischen Aufbaus einer Rede wurden dementsprechend im Schulunterricht gelehrt und waren den gebildeten Menschen bekannt.
Die musikalische Rhetorik versteht Musik als Klang-Rede, die unter Regeln Affekte vermittelt. Was ihre Töne bedeuten, sind Affekte. Sie deklamieren Zorn, Erbarmen, Furcht, Freude usw. Dies tun Sie in bestimmten lehrbahren Figuren. Sie bezeichnen die Affekte (Leidenschaften) und sind gleichzeitig ein Strukturmittel. Das kann gut an der Figurenlehre eingesehen werden. Musikalische Figuren dienen so dem Aufbau einer besonderen Affektensprache.
Die Rhetoriklehre stellte vier Arbeitsgänge auf, die eine Klangrede strukturieren: Die Inventio, die Dispositio (oder Elaboratio), die Decoratio und schließlich die Peroratio (auch Elocutio genannt).
(1) Die Inventio beschäftigt sich mit der Erfindung all dessen, was sich über das jeweilige Thema einer Klang-Rede sagen lässt. Als Basis für die Inventio dient bspw. ein Textausschnitt, ein Bild oder ein bestimmter Affekt oder Leidenschaft.
(2) folgt die Dispositio oder Elaboratio, welche den für die Ausarbeitung vorausgesetzten Aufbau des erfundenen Stoffes der Rede bzw. der Komposition beschreibt. Mattheson rechnet zu einer vollständigen Klang-Rede die sechs Teile Exordium, Narratio, Propositio, Confirmatio, Confutatio sowie Conclusio.
In der untenstehenden Tabelle ist die Dispositio einer Klangrede anhand der Eröffnungskantate „Jauchzet, frohlocket, auf, preiset die Tage” aus dem Weihnachtsoratorium BWV 248 von Johann Sebastian Bach dargelegt.
| Beschreibung | Gliederung der Kantate BWV 248 | Hinweise |
1. | Exordium, der Eingang | Chor: Jauchzet, frohlocket, auf, preiset die Tage | Instrumentale Einleitung und Chor |
2. | Narratio, eine historische Nachricht von der vorhandenen Materie | Rezitativ: Es begab sich aber zu der Zeit | Bericht, Information |
3. | Propositio, der Hauptsatz / davon die Rede vornehmlich handeln soll | Accompagnato: Nun wird mein Liebster Bräutigam Arie: Bereite dich Zion | Inhalt und Zweck der Klangrede. Hauptidee: Das Kommen des liebsten Bräutigams, sich beeilen, den Bräutigam leidenschaftlich zu lieben. Das Kommen Christi in die Welt als sein Kommen in das menschliche Herz, als geistige Ehe, Unio mystica. |
4. | Confutatio, die Ablehnung derer darwider lauffenden irrigen Meynungen | Choral: Wie soll ich dich empfangen | Zweifel, der von der „Gemeinde“ aufkommt |
5. | Confirmatio, die Ausarbeitung und Beweisung des Haupt-Satzes
| Rezitativ: Und sie gebar ihren ersten Sohn Choral und Rezitativ: Er ist auf Erden kommen arm – Wer will die Liebe recht erhöhn Aria: Großer Herr, o starker König | Gegensatz von Niedrigkeit/ Erniedrigung und Majestät |
6. | Conclusio, der Schluß, auch Peroratio genannt. | Choral: Ach mein herzliebstes Jesulein |
|
Um die Zuhörenden zu überraschen, hielten sich die Komponisten nicht ausschließlich an die vorgegebene Reihenfolge der Dispositio, sondern liesen teilweise die Einleitung weg, erfanden einen abrupten Schluss oder vertauschten einzelne Teile (z.B. Confirmatio und Confutatio).
Als (3) knüpft die Decoratio, also die Ausschmückung mittels zahlreicher rhetorischer Figuren, an.
Der (4) Arbeitsgang ist die Peroratio (auch Elocutio genannt), welche sich schließlich dem eigentlichen Vortrag widmet.
Johann Mattheson weist auf ein weiteres sprachliches Element der musikalischen Rhetorik hin, im 9. Capitel behandelt er die „Ab- und Einschnitte der Klang-Rede“, darin weist er auf die Bedeutung der Interpunktionslehre hin. Interpunktionszeichen wie Punkt (.), Colon oder Doppelpunkt (:), Semicolon oder Strichpunkt (;), Commata oder Beistrich (,), Interrogatio oder Fragezeichen (?), Exclamatio oder Rufezeichen (!), die der Klangrede ihre Struktur geben.
Auf diese Weise vermag Musik als rhetorische Affektensprache den Ausdruck von Leidenschaften mit artikulierten Formen unter Regeln verbinden. Gegenüber der Begriffssprache ist sie intensiver, weil ihre Figuren die Affekte des Gemüts ausdrücken und dadurch direkt zu Herzen gehen. Zugleich bleibt sie im Vorhof des Begriffs, weil ihre Figuren - wie der gesamte Aufbau rhetorischer Musik, ihre Dispositio und Elaboratio - auf Begriffe gebracht werden können und sich dadurch zur Textauslegung verwenden lassen. Eine bestimmte Figur bedeutet auf musikalische Weise begrifflich Bestimmtes. Insofern bleibt musikalische Rhetorik eine vor -begriffliche Sprache, deren affektive Intensität mit Strukturform einhergeht.
Musik kann aus dem Vorhof des Begriffs herausgeholt werden und über den Begriff stehen, das Begriffliche wird dabei überwunden. Sie lässt alles Begriffliche hinter sich und besteht ersichtlich nicht mehr in Gefühlen, die sich auch begrifflich bezeichnen lassen. Sie besteht in der Überwindung des Begriffs, gemäß Rilkes Vers an die Musik: „du Sprache, wo Sprachen enden“.
Man denkt dabei eher an die romantische Musikästhetik. Die Sprache der Musik als ein Überstieg in ein unsagbares Absolutes, das finden wir bei E.T.A Hoffmann (1810, S. 630) in seiner bekannten Rezension der fünften Sinfonie Beethovens:
„Die Musik schliesst dem Menschen ein unbekanntes Reich auf; eine Welt, die nichts gemein hat mit der äussern Sinnenwelt, die ihn umgiebt, und in der er alle durch Begriffe bestimmbaren Gefühle zurücklässt, um sich dem Unaussprechlichen hinzugeben“ (Hindrichs, 2017, S. 29).
Überbegrifflich ist Musik, weil ihre eigentümliche Tonsprache sich auf keine Begriffe bringen lässt. Die romantische Philosophie der Musik formuliert so die Sprache der Musik als den Überstieg in ein unsagbares Absolutes, sie möchte das Unsagbare sagen.
In Schopenhauers philosophischem Denken spricht Musik eine metaphysische Sprache. Sie ist „eine so große und überaus herrliche Kunst, wirkt so mächtig auf das Innere des Menschen, wird dort so ganz und so tief von ihm verstanden, als eine ganz allgemeine Sprache, deren Deutlichkeit sogar die der anschaulichen Welt selbst übertrifft“ (ebd., S. 29).
Dieser Weg versteht Musik als eine „Sprache eigener Art“, die sich weder vor noch über den Begriff stellt. Musik verwirklicht sprachliche Merkmale auf eine Weise, die ohne Begriffe auskommen. Hier kommt das Konzept einer rein musikalischen Logik ins Spiel.
Musikalische Logik gestaltet solch folgerichtige Gliederung unter rein musikalischen Regeln. Hierin besteht ihre eigentümliche Sprachlichkeit.
„In der Musik ist Sinn und Folge, aber musikalische; sie ist eine Sprache, die wir sprechen und verstehen, jedoch zu übersetzen nicht im Stande sind“,
um mit dem Musikästhetiker Hanslick zu sprechen (ebd., S. 31).
Die musikalische Logik unterliegt eigenen musikalischen Regeln. Sie weist syntaktische und inferentielle Merkmale der Sprache auf, ohne eine Begriffssprache zu sein, und verzichtet auf Semantik. Musikalische Klänge folgen deshalb aufeinander, weil sie in bestimmten Kontexten unter bestimmten Voraussetzungen einen überzeugenden Schluss vollziehen.
Die Folge von Klängen, die in einer Sonate Schuberts überzeugt, überzeugt nicht in einer Motette Machauts. Bestimmte kontrapunktische Regeln bestimmen die Folgerichtigkeit einer Fuge von Bach genauso wie die Folgerichtigkeit gewisser Passagen bei Bruckner.
Hier kann man sich auch fragen, inwieweit Musik Zeichencharakter besitzt, inwieweit sie zum Zeichen werden kann.
Dazu der Philosoph und Kulturwissenschaftler Adorno:
„Was sie sagt, ist als Erscheinendes bestimmt zugleich und verborgen. Ihre Idee ist die Gestalt des göttlichen Namens. Sie ist (...) der wie immer auch vergebliche Versuch, den Namen selber zu nennen, nicht Bedeutungen mitzuteilen.“ (ebd., S. 34).
Quadriviale Musik, Klangkonstruktion, musikalische Logik zielen mit unterschiedlichen Akzenten auf das Eigensein der Musik: Umgangsmusik, Gefühlsausdruck, Rhetorik, das Sagen des Unsagbaren zielen mit unterschiedlichen Akzenten auf ihren Zeichencharakter.
Hörgewohnheiten und Hörerwartungen ändern sich und bei der inzwischen totalen Verfügbarkeit von Musiken, ist es ganz schwierig unterschiedliche musikalische Sprachen und Ausdrucksformen wirklich zu verstehen.
Auch der Einwand, Musik ist zum Hören, nicht zum Verstehen, kann berechtigt sein. Aber eine verbesserte Zuhörkompetenz, eine Stärkung der Urteilskraft, eine Sensibilisierung des Geschmacks, eröffnet immer wieder neue Welt- und Lebenserfahrungsräume.
Eine solche Herangehensweise, von der eigenen Lebenswelt ausgehend hin zu Dichtkunst, Malerei und Musik, kann eine sinnvolle Begegnung und Erschließung von Welt, bzw. von Kunstwerken bedeuten, wie sie in ihrer jeweiligen Welt entstanden sind.
Hat uns doch schon der erste Bach-Biograph Johann Nikolaus Forkel im Jahr 1802 einen pädagogischen Rat hinterlassen, der an Aktualität nichts verloren hat, und auch heutige Musiker und Lehrer sich zu eigen machen können:
„So soll der wahre Genuss großer musikalischer Kunstwerke allgemeiner werden, so müssen wir vor allen Dingen bessere Musiklehrer haben. Im Mangel guter Lehrer liegt eigentlich die Quelle alles musikalischen Uebels[…] Ausgemacht bleibt es, wenn die Kunst Kunst bleiben, und nicht immer mehr zu bloß zeitvertreibender Tändeley zurück sinken soll, so müssen überhaupt klassische Kunstwerke mehr benutzt werden, als sie seit einiger Zeit benutzt worden sind. Bach, als der erste Klassiker, der je gewesen ist, und vielleicht je seyn wird, kann hierin unstreitig die besten Dienste leisten.
Der Geist der Zeit, der mehr aufs Kleine und auf den augenblicklichen Genuß gerichtet ist, als auf das Große, das erst mit einiger Mühe und sogar Anstrengung errungen werden muss, hat wirklich wenigstens den Vorschlag zur Verbannung der Griechen und Römer aus unseren Schulen hier und da schon veranlaßt;“ (Forkel, 1942, S.13-14).
Forkel, J.N. (1942). Über Johann Sebastian Bachs Leben, Kunst u. Kunstwerke. Bärenreiter
Fladt, H. (2012). Der Musikversteher: Was wir fühlen, wenn wir hören (2. Aufl.). Aufbau-Verl.
Harnoncourt, N. (2010). Musik als Klangrede: Wege zu einem neuen Musikverständnis. Essays und Vorträge (6. Aufl.). Bärenreiter.
Hindrichs, G. (2017). Sprache und Musik. In N. Gess & A. Honold (Hrsg.), Handbuch Literatur & Musik (S. 19–38). De Gruyter. https://doi.org/10.1515/9783110301427
Hoffmann, E. T. A. (1810). Rezension der 5. Symphonie von Ludwig van Beethoven. Allgemeine musikalische Zeitung, 12(40), 630–642. http://www.zbk-online.de/texte/A1094.htm
Mattheson, J. (1739). Der vollkommene Capellmeister. In W. Keil (Hrsg.), Basistexte Musikästhetik und Musiktheorie (S. 100–119). Wilhelm Fink GmbH & Co. Verlags-KG.
Peters. M. (2005). Johann Sebastian Bach als Klang-Redner. PFAU-Verlag.
The Vinzentinum