Gab es damals denn auch Pandemie-Leugner?

Interview mit Norbert Seeber über die Spanische Grippe

veröffentlicht am

Norbert Seeber, Professor für Latein und Griechisch am Vinzentinum, hat für das Pfalzner Dorfblattl über die Spanische Grippe recherchiert. Was er dabei alles in Zeitungsarchiven, in Online-Veröffentlichungen und vor allem im Pfarrarchiv und dem dortigen Sterbebuch entdeckt hat und welche Parallelen sich zur derzeitigen Situation ziehen lassen, erfahren wir im Hermessenger-Interview. 


In den Nachrichten über das Coronavirus taucht ständig ein Ereignis auf, das ziemlich genau 100 Jahre zurückliegt: die Spanische Grippe. Kann man die damalige Pandemie tatsächlich mit der Corona-Krise vergleichen, ja sogar Lehren für heute daraus ziehen?
Ja, in vielen Aspekten drängt sich ein Vergleich geradezu auf, und ich glaube, dass es gut ist, unsere Situation mit der Pandemie vor 100 Jahren zu vergleichen. Vergleiche helfen, Vergleiche relativieren und führen zu einer neuen Perspektive, die einem Ereignis auch die Dramatik nimmt.

Vergleichbar sind das überfallsartige Auftreten der Pandemie wie aus dem Nichts, ihre weltweite Verbreitung, die Aggressivität ihrer Ansteckung, die ausufernden Todeszahlen;

vergleichbar ist die Ursache für die weltweite Ausbreitung, die in der ausgeprägten Mobilität zu suchen ist. In der Endphase des Ersten Weltkrieges befeuerten vor allem die amerikanischen Truppenverschiebungen (zu Millionen) das Infektionsgeschehen;

vergleichbar ist die Hilflosigkeit der Ärzteschaft angesichts der Gesundheitskrise, weil kein erprobtes Gegenmittel bereitstand und man nur Symptombekämpfung betreiben konnte;

vergleichbar ist ebenso der Widerstand gegen die Ärzteschaft, deren Empfehlungen von den Interessen der kriegführenden Parteien in den Hintergrund gedrängt wurden.

Wichtiger sind in meinen Augen aber die Unterschiede. Die Spanische Grippe kam über Europa zu einer Zeit, als bereits die Katastrophe des Krieges, des Hungers, der Tausenden Gefallenen auf den Schlachtfeldern das Maß des Leidens vollgemacht hatte; zu einer Zeit, als politische Systeme am Zusammenbrechen und handlungsfähige Institutionen nicht vorhanden waren.

Die Corona-Pandemie überfällt uns in einer Phase lang anhaltender wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Prosperität, in einer Zeit des Turbokapitalismus und eines nie da gewesenen Wohlstandes. Während bei der Spanischen Grippe die Identität des Erregers erst Jahrzehnte später im Nachhinein bestimmt werden konnte, ist heute die medizinische Wissenschaft so fortgeschritten, dass innerhalb weniger Wochen das Virus identifiziert war und innerhalb eines Jahres ein Impfstoff in Reichweite scheint.

Der größte Unterschied: Die Corona-Pandemie ist steuerbar. Was ein Segen wäre, wird uns aber zum Fluch. Weil durch politische Entscheidungen die Infektionszahlen lenkbar sind, gerät der Kampf gegen die Pandemie zur Zerreißprobe gerade für die freien Gesellschaften. Es scheint, dass im Widerstreit gesellschaftlicher Kräfte und wirtschaftlicher Interessen ein Befund zutage tritt, der die materialistische Schlagseite unserer Gesellschaft klar dokumentiert. In der Analyse dieses Befundes liegt meines Erachtens aber ein großes Erneuerungspotential.

 

Gab es damals – noch ohne die Möglichkeit des Internets – ein Äquivalent zum Phänomen der „Corona-Leugner“ oder gingen die Entscheidungsträger nach streng wissenschaftlichen Vorgaben zu Werke?

Wo es Entscheidungsträger gab, gingen diese in erster Linie nach den tagespolitischen Erfordernissen einer Kriegsagenda vor, d.h. häufig gegen die Empfehlungen einer Ärzteschaft, die jedoch über vergleichsweise geringe wissenschaftliche Mittel verfügte. In der untergehenden Habsburgermonarchie gab es keine flächendeckenden Institutionen mehr, sodass lokale Entscheidungsträger zu mehr oder weniger sinnvollen bzw. akzeptierten Maßnahmen griffen. Von einer geordneten Pandemiebekämpfung kann keine Rede sein.

Außerhalb der kriegsbedingten Propaganda scheint es das Phänomen der „Corona-Leugner“ oder „Verdreher“ nur in dem Sinn gegeben zu haben, dass sich ein wissenschaftlich seriöser von einem „volkstümlichen“ Umgang mit der Gesundheitskrise unterscheiden lässt. Pandemie-Leugner und Verschwörungstheoretiker als eine „Glaubensgemeinschaft von Besserwissern“ scheinen kulturhistorisch ein absolut neuartiges Phänomen zu sein, das sich jeglicher Einordnung entzieht.

 

Gibt es verlässliches Zahlenmaterial über das Ausmaß der Seuche in Südtirol?

Zur Zeit der Spanischen Grippe können wir nur von Gesamttirol sprechen. Es gibt eine Schätzung, die sich auf ca. 1500 Todesopfer beläuft. Aber das gesamte Zahlenmaterial zur Spanischen Grippe beruht nur auf Schätzungen, und diese variieren stark zwischen 25 und 100 Millionen Toten. Eine systematische Durchforstung der Matrikenbücher der Tiroler Pfarreien könnte genauen Aufschluss geben.

 

Mit welchen Mitteln hat man gegen die Spanische Grippe angekämpft und wie wurde man ihrer schlussendlich Herr?

Einen systematischen Kampf gegen die Pandemie haben Historiker in erster Linie für die USA nachzeichnen können, deren Territorium außerhalb des aktiven Kriegsgeschehens lag. Maßnahmen konnten von funktionierenden Institutionen angeordnet werden und sie bestanden aus Quarantänebestimmungen, Ausgangsverboten, Schließungen von Schulen, Kirchen, Kinos und Unterhaltungsveranstaltungen, dem Tragen von Masken und besonderen Hygienevorschriften. (An solchen Maßnahmen haben sich beispielsweise ganz dezidiert die deutschen Behörden angesichts der ersten Corona-Welle gehalten, weil es sich dabei um die einzigen brauchbaren Beispiele aus der Geschichte zur Pandemiebekämpfung gehandelt hat.) Die einzelnen Städte gingen dabei mit unterschiedlicher Strenge vor und die Resultate sind dementsprechend aufschlussreich. So wird von den Historikern immer wieder hervorgehoben, dass es in Philadelphia achtmal so viele Todesfälle gab wie in St. Louis, wo man Schulen, Kinos, Bibliotheken und Kirchen geschlossen hielt.

Nach der verheerenden zweiten Welle, bei der im Oktober, November und Dezember 1918 die meisten Todesopfer weltweit zu verzeichnen waren, gab es im Frühjahr 1919 noch einmal ein kurzes Aufflackern, danach scheint die Grippe langsam verschwunden zu sein. Die Gründe dafür sind nicht klar erforscht.

Auf europäischem Boden hat die Kriegszensur alle Informationen zur Pandemie manipuliert, die Bekämpfung der Seuche wurde durch Kriegsinteressen überlagert, die zeitgenössische Berichterstattung spart dieses Thema vielfach aus, sodass sich allgemein kein sicheres Bild zum Kampf gegen die Krankheit gewinnen lässt. Kleinräumige Forschung bringt zutage, dass die Bevölkerung hierzulande der Spanischen Grippe wehrlos ausgesetzt war und ihr massenweise zum Opfer fiel.

 

Findet sich bei aller Tragik auch irgendwo ein hoffnungsvoller Aspekt, den wir uns 100 Jahre später zu Herzen nehmen könnten?

Verglichen mit den Umständen zur Zeit der Spanischen Grippe sind die Herausforderungen an unsere Gesellschaft gering und leicht bewältigbar. Wissenschaftliche und wirtschaftliche Voraussetzungen verschaffen uns einen nahezu unfairen Vorteil gegenüber unseren Vorfahren.

Drucken

The Vinzentinum